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mit ihrem Aufnahmegerät verfolgt, seine Worte geraubt und seine Gesten der Enttäuschung, hatten
ihn so ohne sein Wissen zum Schauspieler gemacht. Sein Bild, seinen Schatten, seine Seele hatten
sie sich geholt. Sie waren es, die seinen Untergang herbeigeführt, ihn »Untergang« getauft hatten.
Deshalb war es aus mit ihm: sie hatten ihn in der Hand. Das Geschäft war verkauft, es gab keine
Verträge, wenig Geld, manchmal eine kleine Nebenrolle - damit er sich über Wasser halten konnte,
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ein paar Diebstähle. Bis hin zu seinem großen Epos, dem fleischlichen Mord. Auf der Straße war er
ihm begegnet, einem seiner Verführer, und er hatte ihn erstochen: hatte sich eines fleischlichen
Mordes schuldig gemacht. Für dieses Verbrechen war er vor Gericht gekommen. Anwälte
verweigerte er - die ganze Welt, jeder einzelne war gegen ihn, er wußte es. Dennoch hatte er sich so
beredt verteidigt, so überzeugende Gründe angeführt, daß das Gericht sich erheben und ihn
freisprechen mußte. Es hatte ihm eine große Ovation erwiesen, und alle hatten geweint.
Dieser legendäre Prozeß stand im Mittelpunkt von Trovatis verdunkeltem Gedächtnis; in seiner
Erinnerung war er jeden Augenblick gegenwärtig, er sprach von nichts anderem, und oft mußten
wir ihm nach dem Abendessen sekundieren und den Prozeß gleich einem alten Mysterienspiel
wieder heraufbeschwören. Jeder erhielt seine Rolle zugeteilt: du, Präsident, du, Staatsanwalt, ihr,
Geschworene, du, Gerichtsschreiber, ihr anderen, Publikum; und jedem diktierte er seine Rolle.
Aber Angeklagter und zugleich Verteidiger war immer ausschließlich er, und wenn jeweils die
Stunde seiner stürmischen Verteidigungsrede gekommen war, betonte er vorher kurz »beiseite«,
daß es sich um einen fleischlichen Mord handle, wenn das Messer nicht in Brust oder Bauch
gestoßen werde, sondern hierhin, zwischen Herz und Achseln ins Fleisch; und dies sei weniger
schlimm.
Er sprach eine geschlagene Stunde lang, leidenschaftlich und ohne Unterbrechung, und wischte sich
echten Schweiß von der Stirn; schließlich warf er sich mit großer Geste eine imaginäre Toga um die
Schulter und schloß: »Geht, geht nun, ihr Schlangen, deponiert euer Gift!«
Der dritte aus San Vittore, Cravero aus Turin, war dagegen ein echter, hundertprozentiger,
eindeutiger Krimineller, wie sie selten zu finden sind, einer von der Sorte, bei denen die abstrakten
kriminologischen Hypothesen des Strafgesetzbuches Fleisch und Blut anzunehmen scheinen. Er
kannte alle Zuchthäuser Italiens in- und auswendig und hatte in Italien (das gab er selbst ohne
jegliches Zögern, vielmehr mit beträchtlichem Stolz zu) von Diebstählen, Raubüberfällen und
Zuhälterei gelebt. Im Besitz dieser Künste war es ihm nicht schwergefallen, sich auch in
Deutschland durchzuschlagen: bei der Organisation Todt hatte er nur einen Monat in Berlin
gearbeitet, hatte sich dann weggestohlen und war geschickt in die Unterwelt der Stadt getaucht.
Nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen hatte er eine brauchbare Witwe aufgetrieben. Er stellte
ihr seine Erfahrungen zur Verfügung, vermittelte ihr Kunden und nahm in strittigen Fällen die
finanzielle Seite der Sache - wenn nötig, mit Messerstichen - in die Hand. Sie beherbergte ihn, und
er fühlte sich in ihrem Haus trotz Sprachschwierigkeiten und gewisser merkwürdiger Eigenheiten
seines Schützlings äußerst wohl.
Als die Russen vor Berlin standen, hatte Cravero, dem Tumulte gar nicht lagen, den Anker gelichtet
und seine tränenüberströmte Dame sitzenlassen. Trotzdem war er von dem raschen Vormarsch
überholt worden, von einem Lager ins andere gekommen und schließlich hier in Kattowitz
gelandet; aber er blieb nicht lange: er war der erste Italiener, der auf eigene Faust in die Heimat
zurückzukehren versuchte; gewohnt, außerhalb der Gesetze zu leben, bereiteten ihm die vielen
Grenzen, die er ohne Papiere zu überqueren hatte, und die anderthalbtausend ohne Geld zu
überwindenden Kilometer kein großes Kopfzerbrechen.
Da er nach Turin wollte, bot er sich sehr höflich an, mir einen Brief für Zuhause zu befördern.
Etwas leichtfertig, wie sich zeigen sollte, nahm ich an; ich tat es, weil ich krank war, weil ich ein
angeborenes großes Vertrauen in meinen Nächsten habe, weil die polnische Post nicht funktionierte
und weil Marja Fjodorovna, als ich ihr meine Bitte vorgetragen hatte, für mich einen Brief nach
dem Westen zu schreiben, bleich geworden war und das Thema gewechselt hatte.
Cravero brach Mitte Mai von Kattowitz auf und hatte in der Rekordzeit von einem Monat Turin
erreicht, indem er schlangengleich durch die zahllosen Grenzsperren geschlüpft war. Er machte
meine Mutter ausfindig, übergab ihr den Brief (es war das einzige Lebenszeichen in neun Monaten,
das seine Bestimmung erreicht hatte) und erzählte ihr vertraulich, daß ich mich in äußerst
schlechtem Gesundheitszustand befände: natürlich hatte ich davon in meinem Brief nichts gesagt,
aber ich war allein, krank, verlassen, ohne Geld und brauchte dringend Hilfe. Er setzte ihr
auseinander, daß man sofort etwas unternehmen müsse; natürlich, einfach war das nicht, aber da er,
Cravero, mein brüderlicher Freund sei, wolle er sie nach Kräften unterstützen. Wenn ihm meine
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Mutter zweihunderttausend Lire geben wolle, würde er mich heil und gesund in spätestens drei
Wochen nach Hause bringen, versprach er. Und erst recht, wenn ihn das Fräulein (meine Schwester,
die bei dem Gespräch zugegen war) begleiten wolle ...
Lobenswerterweise haben weder meine Mutter noch meine Schwester dem Boten sofort Vertrauen
geschenkt. Sie schickten ihn wieder weg mit der Bitte, in ein paar Tagen noch einmal
wiederzukommen, da sie das Geld nicht im Hause hätten. Cravero stieg die Treppen hinunter, stahl
sich das Fahrrad meiner Schwester vor der Haustür und verschwand. Nach zwei Jahren schrieb er
mir zu Weihnachten eine liebenswürdige Glückwunschkarte aus dem Zuchthaus.
An den Abenden, an denen »Untergang« uns mit der Aufführung seines Prozesses verschonte, tat
sich oft Herr Unverdorben hervor.
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